Unvergessen: Walter Stutzer

(1923 – 2009)

Von einem solchen Erfolg können Chefredaktoren und Chefredaktorinnen in der bezahlten Presse heute nur träumen. Um 100’000 auf 260’000 Exemplare schnellte die Auflage des «Tages-Anzeigers» in den 15 Jahren empor, in denen Walter Stutzer diese Zeitung leitete. Der Erfolg ist ihm nicht in den Schoss gefallen, obschon er später im Rückblick oft sagte: «Ich war eben in einer der besten Zeiten Chefredaktor.»

Der gebürtige Luzerner hatte in Zürich und Genf Geschichte und Vergleichende Literaturgeschichte studiert, bevor ihn der «Tages-Anzeiger» 1949 als Redaktionssekretär anstellte. Rasch fiel Stutzer durch sein journalistisches Talent und seine Einsatzfreude auf. Als junger Auslandredaktor spürte er in den 50er-Jahren früher als andere, dass die hohe Zeit der parteigebundenen Meinungsblätter vorbei war und sich unter dem Einfluss von Radio und Fernsehen im angelsächsischen Raum ein anderer Typus Zeitung herausbildete: die Forumszeitung, die Bericht und Kommentar trennt, verschiedene Meinungen abbildet und die Leser als mündig erachtet, sich eine eigene Meinung zu bilden. Während eines Studienaufenthalts an der Harvard University hatte Stutzer bei amerikanischen Zeitungen und danach als Londoner Korrespondent bei britischen Blättern «geschnuppert». Voller Ideen erfand er mit einer Handvoll Redaktionskollegen den «Tages-Anzeiger» buchstäblich neu. Der damalige Verleger Otto Coninx schenkte Stutzervolles Vertrauen und gab ihm als neuem Chefredaktor grünes Licht für den neuen Tagi, der am 2. Januar 1963 erstmals erschien.

Stutzer habe «eine eher farblos-neutrale Zeitung zum überparteilichen Meinungsblatt» gemacht, zollte Otto Coninx dem langjährigen Chefredaktor später viel Respekt.

Bescheidener formulierte Stutzer sein Erfolgsrezept: «Die Zeitung muss spätestens morgens um sieben im Haus sein. Sie muss mehr eigene Berichte liefern, leicht lesbar und dennoch kompetent sein und zugleich Unterhaltung bieten.»

Mit dem Erfolg der Zeitung wuchsen auch die Belegschaft in der Redaktionszentrale und das Korrespondentennetz. In die Ära Stutzer fielen weitere Pionierleistungen wie die Lancierung der Wochenendbeilage «Das Magazin» und des Stellenanzeigers. Ohne seine menschlichen Qualitäten wäre es Stutzer kaum so gut gelungen, das stürmische Wachstum der Zeitung zu bewältigen und das Schiff «Tages-Anzeiger» durch bewegte Zeiten zu steuern. So prallten in der 68er-Revolte die Ansichten der Jungtürken und der «alten Garde» auf der Redaktion aufeinander. «Stutzer brachte es fertig, dass die Alten nicht davonliefen und die Jungen nicht völlig frustriert waren», erinnert sich ein damals vom 68er-Fieber angesteckter Kollege. Als Volontär und Jungredaktor erlebte der Schreibende Stutzer gegen Ende seiner Chefredaktorenlaufbahn als väterliche Figur, die Junge förderte und forderte. Generell hatte er grosses Vertrauen in seine Leute. «Ich rede nie drein, was in die Zeitung kommt. Aber ich reagiere, wenn etwas drinsteht, was nicht reinpasst», war seine Haltung.

Nach seinem Rücktritt als Chefredaktor 1978 wurde Walter Stutzer in die Unternehmensleitung berufen, wo er für den Bereich Publizistik zuständig war und sich namentlich um die Zeitschriften kümmerte. Sein herzhaftes Lachen war fortan nur noch selten in den Redaktionsgängen zu hören, zumal er sich in seiner neuen Rolle nicht sonderlich wohl fühlte. Umso mehr genoss er nach der Pensionierung mit 63 die Reisen mit seiner Frau Margrit und das Zusammensein mit den Familien seiner Söhne.

(Tages-Anzeiger, 15.12.2009)

Walter Stutzer war jahrelang im VVH-Vorstand und von 1980-1984 VVH-Präsident. Er wohnte an der Habüelstrasse 25.